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Gesellschaftlicher und ideologischer Nährboden © izrg

Schleswig-Holsteins Wirtschaftsstruktur ist Mitte der 1920er Jahre vergleichsweise stark agrarisch ausgerichtet: Jeder dritte Beschäftigte arbeitet in der Landwirtschaft. Im gewerblichen Bereich dominieren die Klein- und Mittelbetriebe, nur wenige großindustrielle Unternehmen wie Werften, Metall- und Textilfabriken produzieren hier. Die Arbeitslosenzahlen folgen der Entwicklung im Reich. Anfang 1933 sind schließlich mehr als 200.000 Menschen arbeitslos oder bereits "ausgesteuerte" Wohlfahrtsempfänger.

Ist die Annäherung von Landbevölkerung und NS-Bewegung als schleswig-holsteinische Sonderentwicklung zu begreifen, so liefert das Verhalten des Mittelstandes eine Bestätigung der generellen "Panik im Mittelstand": In Handwerk und Handel dominiert hier wie überall im Reich zu Beginn der 1930er Jahre die Anhängerschaft der NSDAP. Dies erklären Historiker als Reflex auf die Weltwirtschaftskrise, als eine klassische Angstreaktion von nur mittelbar betroffenen gesellschaftlichen Gruppen: Die Verringerung der Kaufkraft der Not leidenden Arbeiterfamilien wirkt sich in Handel, Handwerk und Landwirtschaft aus und schürt dort die Angst, selbst zum Opfer modernen Wirtschaftens zu werden.

Den gemeinsamen Nenner der Wahrnehmungen der Anhänger des Nationalsozialismus bildet ein "antimoderner Reflex" mit bemerkenswerten Zügen in Schleswig-Holstein: in einer Region mit industriellen Zentren wie Altona, Kiel, Lübeck, Neumünster, Flensburg, Itzehoe und Rendsburg die ausgeprägte Ablehnung von Industrie; am Ausgangspunkt der Novemberrevolution die verbreitete Ablehnung der parlamentarischen Demokratie; in einer Heimat mit historisch unklarer nationaler Zugehörigkeit [mehr ] [ mehr ] der starke Nationalismus. Diese kulturpessimistisch-gewalttätigen Ablehnungen und Zuordnungen sind Ausdruck von Ängsten vor dem schnellen Wandel, vor der modernen Welt. Viele setzen romantische und harmonische Bilder einer geordneten "guten alten Zeit" dagegen. Schleswig-Holstein hat in der wilhelminischen Ära massiv von der staatlichen Schutzzollpolitik profitiert. Wie eine "zollpolitische Wärmestube" hat sie die heimische Landwirtschaft vor echten Marktbedingungen geschützt, so dass aus deren Perspektive nach 1918 tatsächlich eine tendenzielle Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingetreten ist. In der weiterhin traditionell, nämlich ständisch-ländlich geprägten Provinz ist zudem in Gesellschaft und Kultur kaum ein bürgerliches Selbstverständnis entfaltet: Statt von Konkurrenz, Mobilität, Konflikt und Interessenausgleich träumen viele von Autorität, Ordnung, Harmonie und Herrschaft in Staat und Gesellschaft.

Die Nationalsozialisten besitzen weder ein klares politisches Programm noch entwickeln sie eine eigene Ideologie. Sie bedienen sich aus dem Arsenal der Ideen, die völkische, rechtsradikale und auch konservative Kreise seit dem Ende des 19. Jahrhunderts pflegen. Die Hitlerpartei bietet vor allem Leitbilder und Schlagworte, die Gefühle der Gemeinschaft und zugleich ausgrenzende Feindbilder mobilisieren: "Nation", "Volk", "Heimat" und "Scholle", der ehedem angeblich alle Deutschen einende "Geist von 1914", die darin ausgedrückte "Volksgemeinschaft" als positive Attribute einer "sauberen" und "gesunden" Gemeinschaft. Verherrlichung des Kampfes und Krieges, Verächtlichmachung der Schwachen und Kranken, Überhöhung des Volkes und Missachtung des Individuums, Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus, statt dessen Anbetung von Macht und "Führerprinzip", Angst vor dem "Moloch Großstadt", dagegen Lob des "einfachen Lebens auf dem Lande". Die "Rasse" als Kategorie menschlicher Gruppierung mit einer Hierarchie des Stärkeren, die "Arier" als Höchste, dagegen die "minderwertigen Slawen" oder gar die gefährlich-bösartige "Schmarotzerrasse der Juden", die der moderne Antisemitismus versuchte, durch Abstammung und nicht durch das religiöse Bekenntnis zu definieren. Schließlich die Rückführung allen Unglücks und alles Bösen auf "den Juden": "jüdisches Weltkapital", "jüdisches Parteiengezänk" und Juden als "Verderber des deutschen Blutes".

Dieses unklare Geflecht von Ansichten, Vorurteilen, Gefühlen und Schuldzuweisungen scheint eine unruhige, Angst machende Gegenwart erklären zu können und zugleich Gegenvorschläge für die Zukunft zu bieten. Die Rückbesinnung auf eine einfach lebende, Traditionen, Heimat und "Scholle" bewahrende ländliche Gesellschaft findet gemeinsam mit einer Überhöhung alles Arisch-Nordischen einen fruchtbaren Boden in den gesellschaftlichen Strukturen auf dem Land und in den Kleinstädten. Zudem pflegen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bürgerliche Kreise den Glauben an die "Nordmark", der eine von der Grenze abgeleitete Sonderstellung und ein Sendungsbewusstsein der Schleswig-Holsteiner schuf: Hier werden das Deutsche Reich, Volk und Wesen behauptet, und zwar seit 1920 mit der "ungerechten" neuen Grenze in besonderem Maße! In völkischen Zirkeln, in studentischen Gruppen und in der evangelischen Kirche gedeiht der Antisemitismus, denn hier in Schleswig-Holstein mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von nur 0,3 % werden Vorurteile kaum mit der Realität konfrontiert. Anfang der 1930er Jahre gelten antisemitische Ansichten [mehr] [mehr ] in rechtsbürgerlichen Kreisen und Medien als ganz selbstverständlich, allerdings bis zur NS-Machtübernahme ohne Gewaltausbrüche.

Bekannte schleswig-holsteinische Autoren zählen zu den geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus. Zu erwähnen sind der aus Nordschleswig stammende Julius Langbehn (1851-1907) sowie die Dithmarscher Adolf Bartels (1862-1945) und - eingeschränkt - Gustav Frenssen (1863-1945). Langbehns 1890 erschienenes Buch "Rembrandt als Erzieher", das eine "deutsche Innerlichkeit" verherrlichte und Juden in späteren Auflagen als "Pest und Cholera" bezeichnete, entwickelt sich zum weit verbreiteten theoretischen Lehrbuch des völkisch-nationalistischen "Aufbruchs". Der Kritiker und Dichter Bartels zählt zur "Heimatkunstbewegung", deren Kennzeichen Agrarromantik, Heimatliebe und ein fanatischer Antisemitismus bilden. Er propagiert den völkischen Rassismus, literarische Qualität leitet sich für ihn allein von der Rasse ab. Bartels Roman "Die Dithmarscher" (1898) betont ein Sonderbewusstsein dieses Stammes. Auch in Frenssens Bestseller "Jörn Uhl" (1901), in dem ein junger Bauer um seine Unabhängigkeit kämpft, können sich heimatverbundene Leser wieder finden. Gustav Frenssen, Dithmarscher Pastor und später außerordentlich erfolgreicher Autor entwickelt sich ab Mitte der 1920er Jahre zum offenen Antisemiten und schließlich zum entschiedenen Anhänger des Nationalsozialismus, bis hin zur 1940 publizierten Rechtfertigung der Judenverfolgung.

Siehe auch:

Flugblatt
NSDAP-Valgplakat fra 1932

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