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Holocaust im "Reichskommissariat Ostland" © izrg

Nach dem militärischen Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 werden die polnischen Juden beraubt, unter unmenschlichen Bedingungen gettoisiert und zur Zwangsarbeit gezwungen. Zeitgleich führen "Einsatzgruppen und -kommandos" unter Mithilfe von Angehörigen der Wehrmacht und der deutschen Minderheit Massenexekutionen an Juden sowie an Angehörigen der polnischen Intelligenzschicht durch. "Einsatzgruppen" sind vom "Reichssicherheitshauptamt" in Berlin gesteuerte Spezialverbände, die jeweils einer Heeresgruppe beigeordnet und in Einsatzkommandos unterteilt sind. Ihre Angehörige rekrutieren sich aus der SS, dem SD, der regulären Polizei und vor Ort rekrutierten einheimischen Hilfskräften. Ihre offizielle Aufgabe besteht darin, die Gebiete unmittelbar hinter der kämpfenden Truppe zu "befrieden", was beinhaltet, vermeintliche oder tatsächliche Gegner zu töten. Neben "Partisanen" und "Verdächtigen" ermorden sie Intellektuelle und vor allem Kommunisten und Juden.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 beginnt die systematische Ermordung aller europäischen Juden: durch unzureichenden Lebensbedingungen, Zwangsarbeit, Gas und Massenerschießungen. Mit den Wehrmachtskommandanturen koordiniert beginnen die Einsatzgruppen sofort mit Massenmorden; manchmal schießen Wehrmachtsangehörige mit. Hauptzielgruppe sind zunächst männliche Juden, nach Wochen bereits unterschiedslos alle angetroffenen Juden. Parallel initiieren oder fördern die SS- und Polizeieinheiten Pogrome einheimischer Nationalisten und Antisemiten. Ab August 1941 durchkämmen die Mordkommandos systematisch die besetzten Gebiete: Juden auf dem Lande ermorden sie, großstädtische Juden, die oft in kriegswirtschaftlich wichtigen Handwerksbetrieben tätig sind, ziehen die Zivilverwalter in wenige Gettos zusammen. Im Konkreten und Einzelnen handelt es sich um unbeschreiblich entsetzliche Vorgänge - Hunderttausendfach, oft öffentlich und mit unmittelbarer "face-to-face-Gewalt"!

Dies alles findet auch im "Reichskommissariat Ostland" statt; in einem halben Jahr, zwischen Juni 1942 und bis Januar 1942, ermorden die inzwischen in stationäre "Sicherheitspolizei"-Dienststellen umgewandelten SS- und Polizeitruppen hier 330.000 Juden. Das Reichskommissariat, das Lettland, Litauen, Estland und - bis 1943 - erhebliche Teile Weißrusslands umfasst, wird von Schleswig-Holsteins "Gauleiter" Hinrich Lohse verwaltet. Dieser rekrutiert für seine Besatzungsverwaltung derart viele Beamte und NSDAP-Funktionäre aus dem "Heimatgau", dass die dreijährige deutsche Herrschaftsphase auch als ein Aspekt der schleswig-holsteinischen NS-Geschichte begriffen werden kann.

Ab Herbst 1941 finden Deportationen von Juden aus dem Reich und später aus dem übrigen besetzten Europa in Gettos der besetzten Ostgebiete statt. Die Zivilverwalter in Riga reisen an, als die Massenmorde ihren Höhepunkt erreichen. Von Umfang, Offenheit und Form der Verbrechen überrascht, reagieren einige, unter ihnen auch Gebietskommissar Walter Alnor und Reichskommissar Lohse, zunächst unsicher, während andere sofort mit der Sicherheitspolizei kooperieren. Ab Dezember 1941 herrscht Verhaltenssicherheit: Der Mord an den europäischen Juden ist "Führerwille", und relevante Einwände oder mangelnde Zusammenarbeit sind aus dem Reichskommissariat Ostland nicht mehr überliefert. Am 30. November und 8./9. Dezember 1941 erschießen Polizeieinheiten allein am Stadtrand von Riga 26.000 Juden. Berliner Juden, die am 30. November mit einem Deportationszug in Riga eintreffen, werden kurzerhand ebenfalls ermordet. Das Reichskommissariat Ostland bleibt Ziel weiterer Deportationen von mehr als 50.000 Juden aus dem Reich; darunter auch Juden aus Schleswig-Holstein. "Nebenbei" per Erlass des Reichskommissars den Juden gleichgestellt und ebenfalls in den Genozid einbezogen wurden die "Zigeuner", Roma und Sinti der Region.

Ohne Frage liegen Hauptverantwortung und Durchführung des Mordens in den Händen der Einsatzgruppen und Dienststellen des SD und ihren Hilfstruppen. Der Ablauf des Mordens ist arbeitsteilig und "geordnet", damit eine Domäne für Verwaltungskräfte. Die von Lohse im August 1941 erlassenen "Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des Reichskommissariats Ostland" sichern der Zivilverwaltung die konkrete Rolle im uniformen Ablauf des Massenmordes: Die Zivilverwaltung definiert und erfasst "Juden" und kennzeichnet diese mit gelben "Judensternen". Sie errichtet üblicherweise die Gettos, sie regelt deren Versorgung und Infrastruktur, sie weist Gettoinsassen der Zwangsarbeit für die deutsche Wehrmacht, Wirtschaft und Verwaltung zu, sie konfisziert, ordnet, erfasst und versendet die geraubten Vermögenswerte der jüdischen Bevölkerung, sie stellt Fuhrparks für Mordaktionen und bereitet Gettoräumungen vor.

Mit der Umsetzung der jüdischen Zwangsarbeit und den tödlichen Selektionen agieren die Beamten der Zivilverwaltung als Herren über Leben und Tod. Im Gegensatz zum Reich handelt es sich im Reichskommissariat Ostland um ein öffentliches Mordgeschehen. Ein Stadtplan von Riga beispielsweise zeigt, wie zentral und unübersehbar das Getto liegt und dass die Erschießungen in Wäldern mit der Funktion von Stadtparks stattfinden. Die Selektionen, jüdische Zwangsarbeit und Mordaktionen setzt man bis zum Besatzungsende fort. Etwa 800 "Reichsjuden" und nicht einmal 1.000 lettische Juden überleben das Inferno; das sind 1,25 % der von den Deutschen in Lettland Angetroffenen.

Die geografische und herrschaftliche Tatnähe der Besatzungskräfte ist evident. Als sie im Sommer 1944 vor der Front gen Westen fliehen, wissen sie also, warum sie sich bemühen, die Akten des Genozids zu vernichten. Später versuchen sie, ihre Rolle in ein beschauliches Verwaltungsidyll umzudeuten. Der "Eiserne Vorhang" des Ost-West-Konfliktes hilft bei der Vertuschung. Und bundesdeutsche Staatsanwaltschaften ermitteln zunächst gar nicht, dann nur gegen Angehörige der Einsatzgruppen; als sachkundige Strafverfolger sich Ende der 1960er Jahre systematisch auch den Zivilverwaltern widmen, ist es zu spät, da alle Delikte mit Ausnahme des nur noch schwer nachweisbaren Mordes unter die Verjährung fallen.

Siehe auch:

Drei Blicke auf den Judenmord im "Reichskommissariat Ostland"
Libau, 15. Dezember 1941.
Ein Schriftverkehr im Judenmord
Der Moment der Ermordung.
Karte aus einem "Leistungsbericht" des Chefs der "Einsatzgruppe A", Walter Stahlecker, vom 1. Februar 1942.

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