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Jüdisches Leben im Kaiserreich am Beispiel Flensburgs © izrg

Erst mit der bürgerlichen Gleichstellung im Herzogtum Schleswig 1854 (im Herzogtum Holstein 1863) ist es jüdischen Familien tatsächlich gestattet, in der Stadt Flensburg sesshaft zu werden. Sie dürfen nun Grundbesitz erwerben, ihren Beruf (fast) frei wählen und die Männer erhalten Wahlrecht. In den Jahren nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nimmt die Anzahl der Juden in Flensburg ständig zu, so dass sie 1895 ihren Höhepunkt mit 103 jüdischen Einwohnern erreicht. Vorzugsweise arbeiten die Juden der Fördestadt im Handel, hauptsächlich dem Textil- und Manufakturwarenhandel. Während der Kaiserzeit können viele jüdische Händler in die Mittelschicht aufsteigen.

Wenige in Flensburg ansässige Juden leben streng nach dem jüdischen Glauben. Der Bruch vieler religiöser Gesetze bedeutet für die meisten jedoch nicht gleichzeitig den Bruch mit den jüdischen Belangen. So gehört Gustav Salomon dem 1893 gegründeten „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) an, obwohl er sich die Einäscherung nach seinem Tod wünscht, die nach jüdischem Gesetz verboten ist. Aus diesem Grund wird er auf dem städtischen Friedhof in Flensburg und nicht auf dem jüdischen Friedhof in Westerrönfeld bei Rendsburg beerdigt. Mangels Aussicht auf eine jüdische Gemeinde sind es die religiösen Familien, die sich dafür einsetzen, dass sich in Flensburg zu Beginn der 1870er Jahre eine private Vereinigung bildet. Diese ist in den folgenden Jahren die Trägerin des jüdischen Lebens in der Fördestadt. Seit spätestens 1881 verfügte die Vereinigung über ein eingeschossiges Gebäude in der Süderfischerstraße, das sie als Synagoge nutzt. Zunächst hat der Kürschner Louis Weimann das Kantoren- und Schächteramt inne, 1902 übernimmt der Möbelhändler Emil Löwenthal die Organisation der Gottesdienste; das Amt des Schächters wird nicht wiederbesetzt, so dass die Familien, die koscher essen, ihr Fleisch aus Friedrichstadt holen. Löwenthal setzt sich schließlich dafür ein, dass die Kinder einen Lehrer für jüdische Religion erhalten; der Lehrer Theodor Rosenthal kommt wöchentlich für drei Stunden aus Rendsburg. Somit gibt es ab Ostern 1903 eine jüdische Religionsschule in Flensburg, die zunächst 11, auf ihrem Höhepunkt 1906, immerhin 16 Schülerinnen und Schüler besuchen. Bereits 1912 schließt die jüdische Vereinigung die Religionsschule wieder. Nachdem der Magistrat und die Regierung keine finanzielle Unterstützung bieten, gibt es nun wohl auch von jüdischer Seite keine Beihilfe mehr. 1913 gibt die Vereinigung auch die Synagoge auf, den Gottesdienst halten die Gläubigen zunächst in Löwenthals Haus, später im Hotel „Nordischer Hof“ ab.

Doch auch wenn die jüdischen Mitbürger im Kaiserreich endlich rechtlich gleichgestellt sind, kämpfen sie um wirkliche Integration und Anerkennung, denn der moderne Antisemitismus breitet sich im Kaiserreich aus; wie auch in anderen europäischen Staaten. Der moderne Antisemitismus beruft sich auf pseudowissenschaftliche, sozialdarwinistische Vorstellungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen. Die Juden werden als „minderwertige Rasse“ dargestellt, deren wirkliche Integration – unabhängig vom religiösen Bekenntnis der Betroffenen – unmöglich sei und die der Bildung einer einheitlichen deutschen Gesellschaft im Wege stünden. Der moderne Antisemitismus zielt darauf, die rechtliche Gleichstellung der Juden wieder rückgängig zu machen. Im Kaiserreich entstehen zahlreiche antisemitische Parteien.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges hoffen viele deutsche Juden, endlich als gleichwertige Mitglieder der Nation anerkannt zu werden. Sie hoffen, ihre Loyalität und ihren Patriotismus unter Beweis stellen zu können. Bis Kriegsende dienen etwa 96.000 Juden in der kaiserlichen Armee, von denen sich 10.000 freiwillig gemeldet haben, 12.000 müssen ihr Leben lassen. Doch je länger der Krieg dauert, um so mehr verfliegt der „Geist von 1914“. Im Oktober 1916 ordnet das preußische Kriegsministerium eine „Judenzählung“ an, um eine vermeintliche „Drückebergerei“ der Juden vor dem Wehrdienst zu erkennen. Den daraufhin kursierenden Gerüchten über „vernichtende“ Ergebnisse tritt der Staat nicht entgegen; vielmehr entsteht so eine weitere Legende: Neben dem Dolchstoß und den „jüdischen Kriegsgewinnlern“ sprechen rechte Kreise in den 1920er Jahren auch von den „jüdischen Drückebergern“.

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