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Werner Heyde alias "Fritz Sawade" © izrg

1959 eskaliert im Kieler Stadtteil Düsternbrook ein Nachbarschaftsstreit. Prof. Dr. Reinwein, Klinikchef für innere Medizin, leidet unter nächtlichen Ruhestörungen durch die studentischen Verbindungen "Saxonia" und "Traglodytia". Er fühlt sich von der Justiz im Stich gelassen. In seiner Wut droht er im Kollegenkreis damit, öffentlich bekannt zu machen, dass am Schleswiger Landessozialgericht ein Dr. Sawade unter falschem Namen Gutachten erstelle. Dr. Hans Heigl, Leiter der Gesundheitsabteilung im Innenministerium, muss darauf der Sache nachgehen. Dabei erfährt er offiziell, was inoffiziell vielen bekannt ist, nämlich dass es sich bei Sawade um Werner Heyde, den ehemaligen medizinischen Leiter des NS-Euthanasieprogramms, also um einen Massenmörder handelt. - Ein skurriler Anlass bringt einen kaum glaublichen Skandal an die Öffentlichkeit.

Der Nervenarzt Prof. Dr. Werner Heyde, ein Vertrauter Heinrich Himmlers, macht im NS-Staat eine steile Karriere. Mit Hilfe der SS steigt er zum Ordentlichen Professor an der Würzburger Universitätsklinik auf. 1939 bis 1941 organisiert Heyde als Leiter und Obergutachter reichsweit die Ermordung von mehr als 80.000 Kranken und Behinderten. Außerdem wirkt er im Rahmen der Aktion "Sonderbehandlung 14f13" an der Selektion und Ermordung jüdischer KZ-Häftlinge mit. Ab 1942 leitet Heyde ein SS-Lazarett. 1945 wird er in Dänemark verhaftet. 1947 gelingt ihm auf der Rückfahrt von einer Zeugenaussage im Ärzte-Prozess" der "Nürnberger Prozesse" die Flucht. Das Landgericht Frankfurt a. M. lässt ihn fortan per Haftbefehl wegen Mordes suchen.

Während Heigl am 5. November 1959 seine "Erkenntnisse" weiterleitet, warnt sein Schwiegersohn Prof. Dr. Vogt Heyde/Sawade, dass seine Tarnung aufgeflogen sei. In den folgenden Tagen verschleppen Landeskriminalpolizei und Flensburger Staatsanwaltschaft die Ermittlungen, so dass Sawade ungestört seinen Wohnort Flensburg verlassen kann. Aber Tage später wird der Skandal publik. Am 12. November stellt sich Heyde der Frankfurter Staatsanwaltschaft. Der Schleswig-Holsteinische Landtag setzt am 14. Dezember einen Untersuchungsausschuss ein.

Nach und nach gelangen Details aus Heydes zweiter Karriere an die Öffentlichkeit: Der flüchtige Werner Heyde erwirbt 1947 in Kiel auf dem Schwarzmarkt eine neue Identität als Dr. Fritz Sawade. 1949 bewirbt er sich erfolgreich um die Stelle als Sportarzt der Landessportschule in Flensburg-Mürwik. Ab 1950 arbeitet Sawade zusätzlich als Gutachter für das Landessozialgericht in Schleswig; er hat sich dem Kollegen Dr. Glatzel offenbart, dieser hilft ihm. Bis 1959 erstellt "Dr. Sawade" mehr als 7.000 Gutachten für das Landessozialgericht und andere Institutionen, auch in "Wiedergutmachungs"-verfahren von NS-Opfern. Obwohl sich in Flensburg und Schleswig schnell herumspricht, dass mit Sawade etwas nicht stimmt, stellt angeblich niemand Nachforschungen an. Und wer etwas weiß, schweigt vornehm. Heyde/Sawades Vergangenheit wird akzeptiert. Und damit wird sein Fall zu einem Fall der schleswig-holsteinischen Nachkriegsgesellschaft.

1955 kommt es zwischen "Dr. Sawade" und Prof. Dr. Creutzfeldt, dem ehemaligen Chef der Kieler Universitätsnervenklinik, zu einem Gutachterstreit. Daraufhin offenbart Creutzfeldt in einem Schreiben an den Präsidenten des Landessozialgerichts Dr. Buresch die wahre Identität des Gutachters. Dr. Buresch, er ist seit langem über Heyde/Sawade informiert, vertuscht den Vorfall. Er leitet das Schreiben Creutzfeldts mit einem formalen Hinweis an den Absender zurück. Creutzfeldt lässt die Sache daraufhin auf sich beruhen.

1961 nennt der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses 18 Personen aus Justiz, Verwaltung und Medizin, die frühzeitig über die wahre Identität Werner Heydes informiert gewesen sind. Der Fall zieht höchste Kreise, hat jedoch am Ende für keinen der Beteiligten strafrechtliche Konsequenzen.

1962 werden Werner Heyde und andere Hauptbeteiligte der "NS-Euthanasie" vor dem Frankfurter Landgericht angeklagt, "heimtückisch, grausam und mit Überlegung mindestens 100.000 Menschen getötet zu haben". Kurz vor Prozessbeginn, am 31. August 1963, erhängt sich Werner Heyde in seiner Zelle.

Siehe auch:

Schlagzeilen
Werner Heyde alias "Fritz Sawade"
Die "Heyde/Sawade-Affäre" im Landtag
Kaul, Friedrich K.: Dr. Sawade macht Karriere

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