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Strafrechtliche Aufarbeitung © izrg

Die "Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse" zwischen 1945 und 1948 gelten nur einer extrem kleinen NS-Elite. Während die britische Militärgerichtsbarkeit sowie schrittweise ab November 1945 wieder deutsche Gerichte konkrete Straftaten aburteilen, können in der britischen Zone eingerichtete deutsche "Spruchgerichte" in zwei Instanzen schnell, aber rechtsstaatlich korrekt NS-Verantwortliche verurteilen. Die beachtenswerte Funktion dieser Gerichte ist es, Angehörige jener NS-Organisationen, die das Nürnberger Urteil für verbrecherisch erklärt hat, aufgrund ihrer Kenntnisse von Verbrechen wie dem Holocaust oder dem Behindertenmord zu strafen; und zwar mit maximal zehn Jahren Haft und Einzug des Vermögens. Persönlich verantwortete Handlungen dagegen sollen weiterhin reguläre deutsche oder alliierte Gerichte ahnden. Diese Operation "Old Lace" bringt mehr als 24.000 Zivilinternierte der britischen Zone vor Gericht. Obwohl nur jedes vierte der insgesamt 19.200 Spruchgerichtsurteile auf "Freispruch" lautet, müssen weniger als 1.000 Beklagte in Haft bleiben, weil ihnen die Internierungszeit angerechnet wird. Anfang 1949 sitzen nur noch 138 der "Kenntnisverbrecher" ein. Die Milde mancher Urteile mag verwundern; aber es sollte bedacht werden, dass die strafrechtliche Bewertung individueller Schuld parallel durch ordentliche Gerichte erfolgen sollte. Insgesamt muss das britische Spruchgerichtswesen als engagierter Versuch einer schnellen ersten Ahndung gewertet werden.

Die reguläre Strafjustiz ist in den ersten Nachkriegsjahren verworren aufgebaut und dem ständigen Wandel unterworfen: Verfahren finden vor alliierten Gerichten und mit wachsender Zuständigkeit auch vor deutschen Gerichten statt. Grundsätzlich sollen "Kriegsverbrecher" an die Orte beziehungsweise Staaten ihrer Taten ausgeliefert werden. Die Aburteilung von Verbrechen an Angehörigen der "Vereinten Nationen" behalten sich die Siegermächte vor, wieder eingerichtete deutsche Gerichte dürfen in der britischen Zone ab Sommer 1946 zunächst nur gegen Deutsche vorgehen, deren Taten Deutschen oder Staatenlosen gegolten haben. Dabei schützen deutsche Rechtstraditionen viele Täter: Das "Rückwirkungsverbot" verhindert in der Regel eine Verurteilung wegen des neuartigen "Verbrechens gegen die Menschlichkeit", das Verbot einer zweimaligen Strafe in derselben Sache führt immer wieder dazu, dass deutsche Gerichte meinen, auch gegen von Spruchgerichten Verurteilte nicht noch einmal vorgehen zu können: dies stellte eine sehr eigenwillige Rechtsinterpretation zugunsten ehemaliger NS-Elitenangehöriger dar.

Gleichwohl leitet die schleswig-holsteinische Justiz nie wieder so viele staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren ein wie in dieser ersten Phase der Strafverfolgung von NS-Gewaltverbrechen ("NSG"). Zugleich erreicht sie den Höhepunkt an rechtskräftigen Urteilen: Bis Ende 1949 fällen die Gerichte mindestens 180 der bis zum Jahre 1965 insgesamt nur knapp über 230 Urteile. Obwohl ab 1951 die deutsche Strafzuständigkeit hinsichtlich aller NS-Gewaltverbrechen gewährleistet ist, sinkt die Anzahl der Ermittlungsverfahren und der Urteile seit 1950 drastisch. Darin drücken sich die Neuausrichtung der alliierten Interessenlage im "Kalten Krieg" sowie die allgemein verbreiteten Wünsche nach einem "Schlussstrich" unter der Vergangenheitsbewältigung aus. Dieser Entwicklung entspricht auch der Deutsche Bundestag mit den "Straffreiheitsgesetzen" von 1949 und 1954, die all jene Beschuldigten und Täter begnadigen, deren Strafen sechs Monate beziehungsweise drei Jahre Freiheitsstrafe nicht überschreiten oder zu überschreiten drohen. Schleswig-Holsteins Justiz begnadigt daraufhin mehr als 140 Personen.

Ein Kurswechsel setzt erst in der zweiten Hälfte der 1950er ein, als im "Ulmer Einsatzgruppenprozess" Verantwortliche von Massenerschießungen an "Juden" und Kommunisten in Litauen vor Gericht stehen, die bis dahin unbehelligt und beruflich erfolgreich in der Bundesrepublik gelebt haben. Der Prozess bewirkt, dass endlich auch systematische Ermittlungen der Verbrechen der deutschen Besatzungspolitik als notwendig erscheinen. Folge ist 1958 die Errichtung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg, eine Einrichtung, der Schleswig-Holstein zwar zustimmt, aber Ermittlungen im eigenen Land durch das Justizministerium zunächst untersagt. Manche der engagierten Ermittlungen kommen zu spät: 15 Jahre nach Kriegsende tritt - mit Ausnahme von Mord und Beihilfe zum Mord - im Mai 1960 die Verjährung aller Delikte ein. Zahlreiche Einstellungen von zu spät eingeleiteten Verfahren folgen auch in Schleswig-Holstein.

Insgesamt ermittelt die schleswig-holsteinische Justiz bis Ende 1964 in über 830 Verfahren gegen mehr als 1.900 Personen. "Denunziationsverbrechen", "Verbrechen an NS-Gegnern", "Verbrechen in Konzentrationslagern", "Verbrechen an Fremdarbeitern" sowie ab Anfang der 1960er Jahre auch "Verbrechen von Einsatzgruppen und -kommandos" führen die Statistik an. Im Zuge der "Heyde/Sawade-Affäre" gerät auch der regionale Behindertenmord in den Blickpunkt. Im Herbst 1947 und noch einmal 1961 eingeleitete Ermittlungen der Kieler Staatsanwaltschaft verlaufen ebenso erfolglos wie der parallel an Aufarbeitung der Verbrechen arbeitende Landtag, dessen Abschlussbericht 1961 mit Bitternis formuliert: "Eine große Anzahl von Verbrechen muss leider ungesühnt bleiben."

Die Zwischenbilanz der strafrechtlichen Ahndung der NSG-Verbrechen fällt 1965 mager aus: Gegen mehr als 1.100 Personen sind die Verfahren bis Ende 1964 aus Mangel an Beweisen, auf Grund eingetretener Verjährungen oder der Straffreiheitsgesetze eingestellt, gegen 520 Personen wird noch ermittelt. Zwar haben die schleswig-holsteinischen Gerichte bis 1964 mindestens 230 Angeklagte rechtskräftig verurteilt, allerdings 110 von ihnen freigesprochen. Auch später handelt man in "Sachen NSG" oft eher widerwillig: Erst 1968, nachdem die "Zentrale Stelle" in Ludwigsburg eine dezidierte Voruntersuchung übermittelt hat, eröffnet die Staatsanwaltschaft Kiel beispielsweise eine vergleichsweise akribisch durchgeführte Ermittlung wegen des Komplexes "Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ostland" ; 1971 beendete der zuständige Staatsanwalt das Verfahren gegen Theodor Fründt und andere: Bezogen auf noch lebende Akteure seien hinreichende Indizien für den inzwischen erschwerten Mordnachweis zu verneinen.

Teilweise wird die Zurückhaltung der Justiz mit frappanten personellen Kontinuitäten erklärt. Gleichwohl sind auch andere Faktoren zu berücksichtigen: beispielsweise die Schwierigkeiten des zweifelsfreien Nachweises von Gewaltdelikten, die in der Ferne oder ohne erreichbare beziehungsweise ermordete Zeugen stattfanden, die anfangs mangelnden zeithistorischen Kenntnisse, die komplexe Rechtslage mit schnellen Verjährungen und Nachweisverschärfungen, das Prozessrecht, schließlich auch der Aktivitäten hemmende Aspekt, dass oft gegen Angehörige der gleichen gehobenen gesellschaftlichen Schichten ermittelt wurde, etwa gegen Juristen oder hohe Beamte und Polizisten.

Siehe auch:

Militärgericht

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