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Bildungspolitik © izrg

Schleswig-Holsteinische Bildungspolitik

Das landespolitische Streitthema der 1970er Jahre ist die Bildungspolitik. 1973 legt eine Bund-Länder-Kommission den „Bildungsgesamtplan“ vor, der nicht nur die westdeutsche „Bildungskatastrophe“ durch Investitionen in Schulen und Hochschulen beheben will, sondern unter dem Leitmotiv „Chancengleichheit“ Schulreformen fordert. Bildungsöffnung, vor allem Hochschulzugang für neue Schichten, und Schulexperimente bestimmen die Jahre. Die Gesamtschule, die statt des dreigliedrigen Schulsystems von Haupt-, Realschule und Gymnasium alle Schülerinnen und Schüler in einer Schule mit fachbezogener Abstufung zusammenführt, liefert Zündstoff: Sozialdemokratisch regierte Länder wie Hessen und Nordrhein-Westfalen eilen mit der neuen Schulart und Oberstufenzentren voraus, während die christdemokratischen Länder wie Bayern und Schleswig-Holstein am traditionellen deutschen Schulwesen festhalten.

Für Politiker wie Niedersachsens Kultusminister Peter von Oertzen (SPD) bietet Bildungspolitik eine Möglichkeit, die Gesellschaft insgesamt zu verändern. So führt er 1971 auf einem Kongress in Lübeck aus: „Ist es tatsächlich möglich, wenigstens in einem Teilbereich der gesamten Gesellschaft, im Bereich der Bildung, weitgehende Selbstständigkeit, innere Freiheit und Gleichheit aller oder zumindest sehr vieler Individuen zu schaffen, dann ist eine Gesellschaftsordnung in Frage gestellt, die nun in der Tat noch sehr krasse Unterschiede an Einkommen und Vermögen, an sozialem Ansehen und sozialer Selbsteinschätzung, an Macht und an Freiheit kennt.“ Schule soll seiner Ansicht nach möglichst viele qualifizierte Kräfte bereitstellen, dabei aber Chancengleichheit sichern: „Die Schule soll dem einzelnen die bestmögliche Gelegenheit geben, sich zu bilden und seine Lebenschancen zu wahren, und zwar ohne Rücksicht auf ökonomische Umstände, soziale Herkunft und kulturelle Tradition.“ Und die Schule hat eine weitere Aufgabe: „Die Schule muss schließlich dazu beitragen, dass verantwortungsbewusste mündige Bürger in einer sich selbst als demokratisch und pluralistisch zu verstehenden Gesellschaft heranwachsen. … Der einzelne (muss) bereit sein, sich in die gesellschaftliche Kooperation einzuordnen, ohne darüber zum passiven Untertan zu werden.“ – Für sozialdemokratische Reformer steht 1971 außer Zweifel, dass man sich auf dem Weg zur Gesamtschule befindet.

Dagegen verteidigt die christdemokratische Landesregierung das dreigliedrige Schulsystem. In einer Broschüre des Kultusministeriums heißt es 1973: „An die Stelle einer utopischen Bildungspolitik muss in der Bundesrepublik eine verantwortungsbewusste, realistische Politik treten.“ Bildung sei zu sichern ohne Experimente: „Unter dem Banner der Fortschrittlichkeit fliehen heute diejenigen in rosarote Zukunftsträume, die mit der Gegenwart nicht fertig werden. Das Verändern wollen um jeden Preis ist Trumpf.“ Dagegen sei der Erfolg des dreigliedrigen Schulsystems zu setzen, das Leistung fördere. Zwar habe die Landesregierung fünf Gesamtschulversuche bewilligt, aber sie müssen strengen Kriterien genügen: „Die Schulen dürfen nicht zum Spielfeld der Experimentierwütigkeit von Wissenschaftlern werden. … Die Lehrkräfte sollen nicht Glaubensbekenner, nicht Gesamtschulideologen, sondern ergebnisoffene Träger von Schulversuchen sein. … Es geht nicht nur um die Sozialerziehung der Schüler, sondern auch um deren Leistungsfähigkeit.“ Schließlich, so das Kultusministerium, beginne der Konflikt erst: „Die große Auseinandersetzung um das Menschen- und Gesellschaftsbild steht uns heute noch bevor, wenn nämlich die Lehrpläne und die sogenannten Curricula entwickelt werden. Hier wird entschieden, ob es künftig noch Tugenden wie Vertrauen, Toleranz, Zuverlässigkeit, Fleiß, Besonnenheit und andere mehr gibt.“

Tatsächlich gewinnen die Konservativen den Konflikt, und die SPD verliert mit diesem Thema Landtagswahlen. Schon im Wahlkampf 1979 traut sie sich nur noch zu fordern, dass die Gesamtschule als Angebot neben bestehenden Schulen geschaffen werden soll. Mit strengen Voraussetzungen an den Einzelfall verknüpft wird das seit 1988 umgesetzt.

Aber: Nie zuvor oder später wird so viel in Bildung investiert wie während der 1970er Jahre. Zwischen 1969 und 1978 stecken Land und Gemeinden Schleswig-Holsteins 1,15 Milliarden DM allein in den Schulbau, um das Schulwesen konkurrenzfähig zu halten. – Konflikte können sich also lohnen!

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