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Empfangen mit Vorurteilen und Ablehnung © izrg

„Das Schicksal unseres Landes Schleswig-Holstein wird davon abhängen, wie wir hier in Schleswig-Holstein mit dem Flüchtlingsproblem fertig werden und wie weit es gelingen wird, die Ureinwohner zu überzeugen, dass sie die Flüchtlinge nicht für Menschen zweiter Klasse halten. Der erhaltene Besitz verpflichtet gegenüber den wirtschaftlich Schwächeren. Den ausgewiesenen Deutschen aber wird klarzumachen sein, wo die Grenzen der tragbaren Belastung für die Ureinwohnerschaft liegen und dass die Forderungen und Wünsche unserer Flüchtlinge auf ein vertretbares Maß zu beschränken sein müssen.“ Mit diesen Worten beschreibt der CDU-Abgeordnete Rudolf Günther am 15. Juni 1946 im schleswig-holsteinischen Landtag den Konflikt zwischen 1,2 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen und 1,5 Millionen Einheimischen in Schleswig-Holstein. Die Lage ist – und bleibt für einige Zeit – in der Tat prekär: Vor dem Hintergrund des verlorenen Krieges, der eingetretenen Versorgungsnöte, all des persönlichen Unglücks und Elends, stoßen die unfreiwillig Eingetroffenen fast allerorten auf Vorurteile und Ablehnung, artikulieren Einheimische im Angesicht des massenhaften Zuzugs Überfremdungsängste. Das Teilen knapper Lebensmittel und Heizstoffe fällt schwer, das Zusammenrücken im verbliebenen Wohnraum gilt oft als kaum erträglich.

Da die Kapazitäten der Notaufnahmelager bei weitem nicht hinreichen, weisen kommunale „Wohnungskommissionen“ so viele Flüchtlinge wie möglich in vorhandenen Wohnraum Einheimischer ein. Als besonders konfliktträchtig im Zusammenleben der Einquartierten mit den unfreiwilligen „Gastgebern“ erweist sich die gemeinsame Nutzung von Toilette und Küche: ungebetene Fremde im intimen Wohnbereich, so die Sicht Einheimischer, Bittsteller in fremder Küche und auf der Toilette, so die peinliche Erfahrung Einquartierter. Die Wohnungskommission auf Pellworm folgt im Konfliktfall der Devise: „Lieber einem Einspruch stattgeben und das Problem durch eine Umquartierung lösen, als wenn Krieg im Hause ist und jeder sich revanchieren will.“ Natürlich hängt die konkrete Entwicklung im Einzelfall von allen Beteiligten ab. Es gibt gute wie schlechte Erfahrungen: Man kann sich gegenseitig grenzenlos schikanieren, man kann einigermaßen korrekt und distanziert miteinander umgehen, man kann sogar – bei Sympathie und Achtung – Wärme, Solidarität gar Freundschaft entwickeln. – Für alle Varianten gibt es überlieferte Beispiele, tendenziell überwiegen die Probleme im Miteinander, Konflikte und Missverständnisse.

Die Menschen sind sich fremd, gerade auf dem Lande, wo ostpreußische und pommersche Dialekte auf Plattdeutsch oder Sønderjysk stoßen. Buchstäblich versteht man sich nicht. Die einen sind schon immer da, „angestammt“ und integriert, die anderen sind zunächst mittellos, in der „Fremde“. Das Gefälle zwischen stark und schwach ist eindeutig. Der Lehrer der „Norderschule“ auf Pellworm, Johannes Nissen, notiert 1945 in seiner Schulchronik: „Die Zahl der Flüchtlinge nimmt dann nach den Ereignissen im Osten auch auf der Insel stark zu, dementsprechend auch die Zahl der Kinder unserer Schule. Das Einvernehmen mit der einheimischen Bevölkerung ist im Allgemeinen ordentlich und normal, trotzdem die Wesensart dieser östlichen Menschen uns doch ziemlich fremdartig anmutet.“ – Eine Formulierung eines schleswig-holsteinischen Deutschen über die zumeist ostpreußischen und pommerschen Deutschen, die befremdlich wirkt und die zwölf Jahre propagierte „Volksgemeinschaft“ erstaunlich abrupt aufkündigt. Es finden sich viele und drastische Belege für diese vorurteilsbeladene Fremdheit, die viele Schleswig-Holsteiner den Neuankömmlingen gegenüber empfinden. Als Landesminister Walter Damm eine nordfriesische Insel besucht, ruft ihm ein Bewohner zu: „Herr Minister, machen Sie die Insel frei von Flüchtlingen, das Friesentum geht unter!“

Wirtschaftliche Aufnahme, aber gesellschaftliche Trennung in Kappeln, jugendliches Aufeinanderzugehen in der Eckernförder Schule, aber Bevorzugung einheimischer Lehrkräfte bei Personalfragen, stigmatisierendes und ausgrenzendes Lagerleben, Ablehnung der Fremden im öffentlich-kommunalen Leben in Brunsbüttel, unterschiedliche Behandlung Verstorbener auf dem Friedhof Eichhof in Kiel-Kronshagen: Erste kleinere Untersuchungen zeigen, wie abwehrend die von „Einheimischen“ repräsentierte schleswig-holsteinische Gesellschaft auf die „Zugezogenen“ reagiert. 650.000 bleiben gleichwohl auf Dauer, werden also „Schleswig-Holsteiner“. Man muss die in der Retrospektive so gern und häufig beschworene, auch gefeierte Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in erster Linie als soziale Anpassungsleistung der Betroffenen selbst charakterisieren, die indes in den hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten der 1950er Jahre den notwendigen und hinreichenden Resonanzboden findet.

Siehe auch:

Flüchtlingslager
Risum
Schönberg
Kleinbarackenlager an der Westküste
Begriffe
Flüchtlinge in Kiel

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