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Heranwachsende im 19. Jahrhundert © izrg

Erst gegen Ende des 19. Jahrhundert wird "Jugend" so aufgefasst, wie wir sie heute verstehen – als Entwicklungsprozess zwischen Kindheit und dem eigentlichen Erwachsensein. Bis dahin unterscheidet man lediglich zwischen Kindern und Erwachsenen, wobei die Kindheit nicht selten im Alter von sechs oder sieben Jahren mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt endet. Die Gesellschaft nimmt die Entwicklungsphase "Jugend" nicht früher wahr, weil die soziale Kontrolle durch die Gemeinschaft stark ist: Die engen gesellschaftliche Normen lassen weder eine Selbstfindungsphase noch Zweifel am eigenen Lebensweg zu. Dieser ist meist durch die Eltern und durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Zwänge vorgegeben. Erst die im 19. Jahrhundert einsetzenden, umwälzenden gesellschaftlichen Veränderungen ermöglichen das Ausleben dieser Entwicklungsphase und das Entstehen einer eigenen "Jugend"kultur. Doch die Gesellschaft nahm "Jugend" zunächst als politisches und gesellschaftliches Problem wahr.

Im 19. Jahrhundert verschlechtern sich als Folge des starken Bevölkerungswachstums die Chancen der Heranwachsenden auf dem Lande einen Arbeitsplatz zu finden. Gleichzeitig entstehen durch die Industrialisierung in den Fabriken der Städte zahlreiche neue Arbeitsplätze. Viele junge Menschen wandern daraufhin in die Städte ab, wo sie zwar Arbeit finden, aber auch die bestehenden Bindungen und Mechanismen der sozialen Kontrolle aufgehoben sind. Die Städte wachsen im Zuge dieser Urbanisierung, auch die Altersstruktur verändert sich: Die Bevölkerung der Städte wird jünger, während die Landbevölkerung im Durchschnitt älter wird. Mit dem Zuzug der Jugendlichen verändern sich auch die Lebensformen in den Städten. Da privater Lebensraum knapp und teuer ist, teilen sich manchmal bis zu drei Arbeiter wechselseitig ein Bett; das Leben verlagert sich zusehends in den öffentlichen Raum. So entstehen in den Städten neue Formen der Alltags- und Freizeitkultur, während auf dem Land weiterhin traditionelle Werte gelten. Die alten Autoritäten Kirche und Familie verlieren in den Städten an Bedeutung. Langsam bildet sich eine eigene "Jugend"kultur heraus, mit eigener Lebensweise, eigener Kleidung, eigenen Ritualen und Werten, die auch erstmals Beachtung in der Öffentlichkeit findet und eine zusätzliche Anziehungskraft auf die ländliche Jugend ausübt.

Die allmählich entstehenden Milieus der Heranwachsenden lassen sich in drei große Gruppen unterteilen: Landjugend, Arbeiterjugend und bürgerliche Jugend. Kinder und Heranwachsende auf dem Land werden im Hinblick auf ihre Aufgaben auf dem Bauernhof erzogen, ihre Mitarbeit bei den täglich anfallenden Arbeiten ist selbstverständlich. Die Phase des Heranwachsens dient der sozialen Integration in die bestehende Ordnung, die durch die Welt der Erwachsenen und die Dorfgemeinschaft vorbestimmt ist. Die Anzahl junger Arbeiter und Arbeiterinnen in den Städten steigt um die Jahrhundertwende stark an. Teilweise sind es junge Männer und Frauen, die vom Land in die Städte ziehen, um Arbeit zu finden. Während zugezogene Jugendliche der direkten Kontrolle ihres früheren Umfeldes entzogen sind, wachsen auch die dort geborenen Arbeiterkinder ohne die früher selbstverständlich, festen sozialen Bindungen auf: Weil Vater und Mutter arbeiten müssen, sind sie bereits früh auf sich selbst gestellt und müssen ihren Teil zum Familienunterhalt beitragen. Die Erfahrungen der bürgerlichen jungen Menschen verlaufen gänzlich anders als die der Land- oder Arbeiterjugend. Sie wachsen behütet und streng getrennt von Jugendlichen aus den Unterschichten auf, haben wenig Kontakt zur Arbeitswelt und sind stärker durch Schule, Ausbildung und ein privates Familienleben geprägt. Generell kommt der Familie in bürgerlichen Haushalten eine neue Rolle zu: Nicht mehr die Arbeitskraft der Kinder steht im Vordergrund, sondern die Familie als "Konsum-, Erziehungs- und Freizeitgemeinschaft". Dahinter steht auch ein neues, bürgerliches Verständnis vom Zusammenleben der Familien.

Die Erwachsenen und die Obrigkeit setzen sich zumeist kritisch mit der neu entstehenden "Jugend" auseinander. Sie beklagen vor allem den Verlust bestehender Normen, sowie die Verwilderung und Respektlosigkeit der "Jugend": Der Ausdruck stammt ursprünglich aus der "Rettungshausbewegung" und bezeichnete Ende des 19. Jahrhunderts "verwahrloste", "kriminelle" oder "gottlose" Heranwachsende, die meist dem städtischen Arbeitermilieu entstammten. Immer stärker tritt auch die Angst vor einer Radikalisierung der jungen Arbeiter zu Tage. Jugendliche werden vor allem als soziales Problem, ihre "Verwahrlosung" als Folge von Industrialisierung und Modernisierung empfunden. Als Reaktion hierauf kommt es seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Gründungswelle von Vereinen und Organisationen, die sich der Jugend annehmen sollen. Kirchen, Parteien und Verbände versuchen, vor allem die jugendlichen Arbeiter für sich zu gewinnen. Den stärksten Zulauf verzeichnen die Turn- und Sportvereine, die in ihrer Struktur den Freizeitbedürfnissen der Heranwachsenden am Nächsten kommen. Trotzdem bleiben die Erfolge bescheiden. Bis zur Jahrhundertwende gelingt es den Organisationen nicht, die Jugend wirklich für sich zu gewinnen.

Siehe auch:

Arbeiter- und Bürgerkinder
Halbstarke
Drei Mädchen am Brunnen.
Erntehelfer

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