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Die "Kinderrepublik" Seekamp 1927 © izrg

16. Juli 1927, abends, Hauptbahnhof Kiel: Fast 2.300 Kinder aus Arbeiterfamilien aus vielen Teilen des Reiches, aus Dänemark, aus Österreich und aus der Tschechoslowakei entsteigen zwei von der Reichsbahn zur Verfügung gestellten Sonderzügen aus Hamburg und Berlin. Sie reisen an, um an einem demokratischen Experiment teilzunehmen: Sie wollen unter der lediglich beratenden Mithilfe von Erwachsenen eine vierwöchige „Kinderrepublik“ selbstverantwortlich gestalten, in einem eigenhändig aufgebauten und selbst verwalteten Zeltlager leben, um „soziale Demokratie“ und „genossenschaftliche Solidarität“ zu lernen.

Schöpfer dieser außergewöhnlichen Idee ist der junge Andreas Gayk, schleswig-holsteinischer Landesvorsitzende des Vereins „Die Kinderfreunde“, einer nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstandenen Bewegung aus jungen Pädagogen und – ehemaligen – Mitgliedern der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Die Kinderfreunde organisieren Aktivitäten mit Arbeiterkindern, die sich selbst „Rote Falken“ nennen.

Die Kieler Arbeiterbewegung heißt die Kinder aus anderen Arbeiterfamilien herzlich willkommen: Am Sonntag morgen findet in der Kieler Nordostseehalle eine Begrüßungsfeier statt, anschließend ein Zug mit Musik und Fahnen durch die Stadt. Zahlreiche Familien – mehr als nötig – sind dem Aufruf gefolgt, die auswärtigen kleinen Gäste für zwei Nächte privat aufzunehmen. Eine erstaunliche Sache bei den meist extrem beengten Wohnverhältnissen der etwa 70.000 Arbeiter in Kiel. Die Arbeiterbewegung praktiziert das, was auf den Fahnen steht: Solidarität; auch in den folgenden Wochen. Unter anderem organisiert sie Besuchstage im Zeltlager. Und Kleingärtner schaffen von einem Tag auf den anderen zwei Lastwagen voll mit frischem Gemüse in die Kinderrepublik, als es im Zeitungsaufruf heißt, der Handel biete die vitaminreiche Kost zu teuer an: Je 15 Zentner Erbsen und Bohnen, 18 Zentner Frühkartoffeln und 10 Kubikmeter Rhabarber und weiteres Gemüse zählen die Kinder nach ihrer „Gemüse-Prozession“. Auch die sozialdemokratische „Volkszeitung“ berichtet regelmäßig und mit Sonderbeilagen von der Kinderrepublik Seekamp, die aus markanten weißen Spitzzelten besteht; die Kinderfreunde konnten diese irgendwo in ausgesonderten Beständen des britischen Militärs auftreiben.

Unterstützung haben die Kinderfreunde jedoch auch von den städtischen Behörden erfahren. Nach langer Suche nach einem geeigneten Platz hat Gayk die Erlaubnis der Stadt Kiel erhalten, die Wiesen des städtischen Gutes Seekamp nördlich von Kiel für das Zeltlager zu nutzen. Die Stadt legt eigens eine Wasserleitung. Auch die Reichsmarine hilft: Sie bringt die Kinder mit Schiffen von Kiel nach Friedrichsort. Dabei kommt es allerdings zu einem Zwischenfall, als Kinder an Bord ihre roten Fahnen entrollen. Kommandanten verhandeln mit den Kindern – wohl auch in Erinnerung an die Revolution neun Jahre zuvor – die Kinder packen letztendlich ihre Fahnen weg. Außerdem stellt die Marine Feldküchen mit soldatischem Personal, die das Essen bereiten. Eine erstaunliche Annäherung zwischen Arbeiterschaft und Marine.

Die Kinder tragen in Seekamp selbst Verantwortung für „ihre“ Kinderrepublik, die erwachsenen Helfer unterstützen sie dabei nur in beratender Funktion. Kinder und Helfer treffen sich auf einer Augenhöhe: Da freut sich schon mal eine 10jährige Nachtwache, einen Helfer erwischt und ins Zelt verwiesen zu haben. Das Zusammenleben von über 2.000 Kindern muss sich organisieren: Einen Großteil der Regeln bestimmen die Kinder selbst über ein parlamentarisches System. Jedes Zelt mit 16 Kindern und einem erwachsenen Helfer bestimmt eine Obfrau oder einen Obmann, ein Dorf besteht aus etwa 15 Zelten. Die Obmänner und -frauen der Zelte bilden gemeinsam mit drei Helfern und einem gewählten Bürgermeister das Dorfparlament. Jedes Dorf schließlich schickt die Bürgermeister und weitere vier gewählte Abgeordnete in das Lagerparlament mit einem Lagerpräsidenten und einem Lagerobmann. Außerdem wählen die Vertreter der Kinder „Minister“ für Ordnung, Ernährung, Transport, Veranstaltung, Post und Material. Wöchentlich müssen sich die Obleute und gewählten Vertreter ihrer „Basis“ stellen. Die Kinderrepublikaner lernen so die wichtigen Funktionsweisen der Demokratie kennen: eine Verfassung, Wahlen, Parlamente, Gesetzgebung, Verhandlungen, Regieren, Verwalten...

Ein beispielhafter Konfliktfall, über den das ebenfalls existierende „Lagergericht“ zu beraten hat: In einem von schmerzhaften Heimweh diktierten Brief an die Eltern schreibt ein Teilnehmer: „Liebe Eltern! Seid bitte so gut und holt mich wieder ab. Es regnet durch die Zelte. Das Stroh, auf dem wir schlafen, ist ein Mist. Man verfault hier bei lebendigem Leibe. Unser Essen mögen nicht mal die Schweine.“ Das Lagergericht kommt – wie es später berichtet – zu folgendem „Urteil“: „Wir waren jedoch der Meinung, daß wir Briefe nicht zurückhalten dürften. Jeder muß schreiben können, was er will. Wenn er nicht die Wahrheit schreibt, müssen wir es eben richtigstellen. Deshalb baten wir die Zeltgemeinschaft, dem Brief des Jungen einen Brief der Horde beizufügen und darin alles so zu schildern, wie es sich zugetragen hat. Der Lagerarzt aber mußte bescheinigen, daß er Junge kerngesund war und daß er nur Heimweh hatte.“

Viele der im Lager anfallenden Aufgaben, wie die Reinigungsdienste und Hilfe bei der Zubereitung des Essens, müssen die Kinder gemeinschaftlich in Arbeitsgruppen erledigen. Das Prinzip der Eigenverantwortung trägt; auch wenn es manchmal Pannen gibt, wie die „Volkszeitung“ berichtet: „Mittwoch gibt es das für Donnerstag vorgesehene Mittagessen, weil versehentlich keine Kartoffeln geschält worden sind. Dafür gibt es am Donnerstag Rindfleisch mit Nudeln und Kartoffeln.“

Die Kinder von Seekamp leben die Gemeinschaft des Zeltlagers, lernen die Funktionen der Gesellschaft kennen und erfahren die Bedeutung solidarischen Handelns. Sie erfahren auch sozialistische politische Bildung, denn die „Klassenerziehung“ und die Verbreitung von Klassenstolz gehören ebenfalls zu den Zielen der Kinderrepubliken: In der Mitte des Zeltplatzes steht die am ersten Abend feierlich gehisste rote Fahne und die Kinder singen Lieder der Arbeiterbewegung. Einen Höhepunkt der Kinderrepublik Seekamp stellt die Antikriegskundgebung dar: Die komplette Republik, über 2.000 Arbeiterkinder, marschieren zu den Überresten des Fort Herwarth, einer kleinen Festung am Strand und hissen dort eine große Fahne mit dem Schriftzug „Nie wieder Krieg“. Sie folgen der Rede des Präsidenten der Kinderfreunde Kurt Löwenstein: „Nie wieder Krieg! ... Daran wollen wir mithelfen. Die Jugend, die Kinder müssen mutig gegen den Krieg auftreten. Helme und Gewehre als Kinderspielzeuge – werft sie von euch! Kriegsspiele – weist sie fort! Sie sind die Anfänge neuer Kriege.“ Und dann folgt die Selbstverpflichtung der Kinderrepublik: „Wir machen einfach nicht mehr mit! Kein Roter Falke nimmt Mordwaffen in die Hand!“

Doch natürlich steht in Seekamp nicht nur Politik und Arbeit im Mittelpunkt. Die Kinder erlebten auch den üblichen Alltag eines Ferienlagers – von der Morgentoilette unter freiem Himmel bis zum Lagerfeuer am Abend – und unbeschwerte Urlaubstage am Strand und in der Natur. Denn genau das ist ein weiteres Element dieses Experimentes: Arbeiterkinder sollen für vier Wochen Erholung von der Enge und oft auch Not des Alltags zu Hause erleben. Sie können aus einem vielfältigen Programm auswählen: Sport, Baden, Spiele, Basteln, Musizieren, Theater spielen, die Redaktion der Lagerzeitung und sogar ein Kinderzirkus sind nur einige der angebotenen Aktivitäten, an denen die kleinen Republikaner teilnehmen können.

Am Ende der Republik entsteht aus Briefen, Tagebuchauszügen und „Hordenaufzeichnungen“ das Buch „Die Rote Kinderrepublik“ mit dem selbstbewussten Untertitel: „Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder.“ Nun führen dabei auch junge Pädagogen die Feder, aber der Anspruch, als Kind oder Jugendlicher die Republik selbst gestaltet zu haben und auch über sie allein zu berichten, wird deutlich. Das Buch, das im Arbeiterjugend-Verlag erscheint, findet reißenden Absatz, so dass die erste Auflage innerhalb weniger Wochen vergriffen ist. Die Kinderfreunde haben mit ihrer Idee des selbst verwalteten Zeltlagers den Nerv der Zeit getroffen; Seekamp wird zum Vorbild für weitere Kinderrepubliken.

Siehe auch:

Falken
Collage gegen Kriegsspielzeug

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