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Kinderrepubliken © izrg

Arbeiterkinder gestalten selbstverantwortlich Zeltlager als sozialistische „Kinderrepubliken“, um die Funktionsweise der jungen Weimarer Demokratie kennen zu lernen und zu leben

Im Mai 1927 hält ein junger Mann namens Andreas Gayk vor dem sozialistischen Erziehungsverein „Neue Gemeinschaft“ in Kiel einen Vortrag. Sein Thema: Ein bevorstehendes großes Zeltlager für Arbeiterkinder. Mehr als 2.000 Kinder erwarte man demnächst in Kiel. Gayk ist der schleswig-holsteinische Landesvorsitzende der „Kinderfreunde“, einer sozialistischen, reformpädagogischen Bewegung, die Aktivitäten mit Arbeiterkindern organisiert. Ziel des geplanten Zeltlagers sei die geistige und sittliche Erziehung der Kinder zu mündigen Republikanern und Sozialisten. Die Kinder sollen die Funktionsweise der jungen Weimarer Demokratie kennen lernen und eine „Kinderrepublik“ selbstverantwortlichen gestalten.

Diese ehrgeizige Ankündigung setzten die Kinderfreunde um: Vier Wochen lang lebten 2.300 Kinder aus vielen Teilen des Reiches, aus Österreich und aus der Tschechoslowakei ihre kleine Demokratie in einem Zeltlager auf den Wiesen des städtischen Gutes Seekamp nördlich von Kiel. Die Kinder trugen wirklich die Verantwortung für „ihre“ Republik Seekamp. Die erwachsenen Helfer traten nur als Berater auf. Das Lager erhielt eine demokratische Verfassung: Jedes Zelt mit 16 Kindern und einem erwachsenen Helfer bestimmte einen Obmann oder eine Obfrau, der das Zelt in einem Dorfparlament vertrat. Jedes aus etwa 15 Zelten gebildete Dorf schickte wiederum gewählte Vertreter in das Lagerparlament mit einem Lagerpräsidenten, einem Lagerobmann und Ministern für spezielle Fragen wie Ernährung oder Post. Wöchentlich mussten sich Obleute und Parlamentarier ihren Wählern stellen, sie hatten keine hierarchischen Führungsrollen. Unterstützt von ihren Helfern praktizierten die Kinder und Jugendlichen die komplette Selbstverwaltung des Lagers. Ausdrücklich sollte es keinen „Kadavergehorsam“ geben, sondern selbstbewusste, selbstverantwortliche demokratische Jugendliche.

Außerdem erlebten die Kinder unbeschwerte Urlaubstage in der freien Natur. Denn bei diesen Ferien für Arbeiterkinder aus der Großstadt ging es neben der Einübung demokratischer Prinzipien auch um Erholung vom oft beschwerlichen Alltag, in dem die Arbeiterkinder gegenüber bürgerlichen Kindern benachteiligt und erheblichen Belastungen ausgesetzt waren: oft mangelhafte Ernährung, schlechte Wohnverhältnisse, meist nur den Besuch der Volksschule, frühe Erwerbstätigkeit. Auch die Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins gehörte zu den Zielen der Kinderrepubliken, genauso wie die Verbreitung von Stolz auf die eigene Klassenzugehörigkeit: „Rote Falken sind Arbeiterkinder! Und sie sind stolz darauf!“

Als die Kinder nach vier Wochen die Zelte abbrachen, galt das demokratische Experiment als gelungen. „Kinderfreunde“ organisierten in den Folgejahren weitere sozialistische Kinderrepubliken in ganz Deutschland, auch wieder in Schleswig-Holstein. 1930 kamen 3.000 Arbeiterkinder nach Brodten an der Lübecker Bucht, 1932 fand eine Kinderrepublik bei Glücksstadt an der Niederelbe und eine weitere auf der kleinen Ochseninsel in der Flensburger Förde statt, wo es zu einem Treffen mit der dänischen Arbeiterjugend in Sonderburg kam.

Die Mitglieder der Kieler und Lübecker Arbeiterbewegung unterstützten die Kinderrepubliken 1927 und 1930 tatkräftig, indem sie den Kindern für ein paar Nächte Herberge boten, Besuchstage im Zeltlager organisierten und auch Nahrungsmittel herbeischafften. Die sozialdemokratische „Volkszeitung“ berichtete regelmäßig über die Kinderrepubliken. 1927 überließ die Stadt Kiel den Kinderfreunden den Zeltplatz; die Reichsbahn stellte Sonderzüge und sogar die Reichsmarine leistete organisatorische Hilfe. - So waren diese Zeltlager zwar von sozialistischen Arbeiterjugendlichen organisiert, aber auch staatliche und städtische Institutionen unterstützten die Vorhaben. Hohe Repräsentanten des Weimarers Staates nahmen diese Schulen der Demokratie ernst: Preußens Innenminister Carl Severing hielt in Seekamp eine Rede, zur Eröffnung der Kinderrepublik in der Lübecker Bucht sprach 1930 der bekannte SPD-Reichstagsabgeordnete Julius Leber.

Seekamps Schlussparole blieb dennoch ein pädagogischer Kindertraum: „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt! ... Wir geben nicht nur schöne Plätze für Kinderrepubliken: wir machen aus ganz Deutschland eine große, rote, sozialistische Republik, und jeder, der in ihr wohnt, soll froh und glücklich leben können.“ Die Kinderrepubliken versuchten um 1930 für eine Zukunft zu prägen, die nicht eintraf, auch wenn Tausende Arbeiterkinder erfolgreich Demokratie praktiziert und gelernt hatten.

Diese Geschichte erscheint in folgenden Themen:
Revolution 1918-1920
Jugend und Schule
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