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Ein Schriftverkehr im Judenmord

Dr. Walter Alnor, Landrat des Kreises Eckernförde und jetzt „Gebietskommissar“ im lettischen Libau, schreibt am 11.10.1941 an den „Gebietskommissar Lettland“ Otto Heinrich Drechsler: „Ein Moment der Unruhe waren die erneut aufgenommenen zahlreichen Judenerschießungen in der letzten Woche. In den Landgebieten und kleinen Landstädten sind sämtliche Juden liquidiert worden, in Libau selbst m. W. etwa 470. Es handelt sich durchweg um Frauen und Kinder. So waren z.B. in Hasenpoth noch vorhanden 12 männliche Juden und 321 Frauen und Kinder. Diese sind restlos erschossen worden. Sowohl der Festungskommandant und ich haben uns dagegen ausgesprochen, dass nachdem bereits seit Wochen völlige Ruhe eingetreten war, derartige Maßnahmen, die zudem gegen die Anordnung des Reichskommissars im Widerspruch stehen, durchgeführt werden. Gerade die Erschießung der Frauen und kleinen Kinder, die z. B. schreiend zu den Exekutionsplätzen geführt worden sind, hat das allgemeine Entsetzen erreicht. Der durchaus gefügige Bürgermeister der Stadt Libau, der infolge ständigen Druckes, den die verschiedenen Wehrmachtsteile auf ihn ausüben, beinahe alle Maßnahmen billigt, ist persönlich bei mir vorstellig geworden und hat auf die große Erregung in der Stadt hingewiesen. Auch Offiziere haben mich gefragt, ob diese grausame Art der Hinrichtung selbst bei Kindern erforderlich wäre. In jedem Kulturstaat und selbst im Mittelalter durften schwangere Frauen nicht hingerichtet werden. Hier hat man selbst darauf keine Rücksicht genommen. In Windau sind, wie der Festungskommandant mir mitteilt, 4 lettische Selbstschutzleute eingetroffen, von denen 2 total betrunken waren, um, wie sie in den Straßen laut verkündeten, die „Liquidierung der Juden durchzuführen“. Der Ortskommandant hat später Anweisung bekommen, sich in das Treiben dieser Elemente nicht einzumischen. Ich bin der Auffassung, dass sich dies eines Tages als ein schwerer Fehler erweisen wird. Es sei denn, dass man alle dabei mitwirkenden Elemente auch anschließend liquidiert. Alnor.“ Reichskommissar Lohse unterbindet darauf die Fortsetzung der Morde. Dr. Georg Leibbrandt, Abteilungsleiter im „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ in Berlin verlangt darauf eine Stellungnahme: „Von Seiten des Reichssicherheitshauptamtes wird Beschwerde darüber geführt, daß der Reichskommissar Ostland Judenexekutionen in Libau untersagt habe. Ich ersuche in der betreffenden Angelegenheit um umgehenden Bericht.“

Lohse rechtfertigt sich am 15. November 1941: „Ich habe die wilden Judenexekutionen in Libau untersagt, weil sie in der Art ihrer Durchführung nicht zu verantworten waren. Ich bitte mich zu unterrichten, ob ihre Anfrage vom 31.10. als dahingehende Weisung aufzufassen ist, daß alle Juden im Ostland liquidiert werden sollen. Soll dies ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und wirtschaftliche Interessen (z.B. der der Wehrmacht an Facharbeitern in Rüstungsbetrieben) geschehen? Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muß aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden.“

Dieser Brief Lohses, am Beginn der systematischen Ermordung der europäischen Juden verfasst, demonstriert Unsicherheit über die eigene neue Rolle, auch über die Formen der mörderischen Gewalt und deren Zielgruppen. Die zwiespältige Botschaft lautet: jüdische Arbeitskräfte nutzen und keine wilden, unordentlichen Erschießungen. Im eigentlichen Mordziel offenbart Lohse kein Abweichen. Nach dem Krieg bringt er immer wieder vor, dass er den Judenmord an sich habe verhindern wollen, dieses aber nicht habe direkt ausdrücken können. Er habe wirtschaftliche Argumente vorgebracht, um sein Ministerium zu einer eindeutig den Mord ablehnenden Aussage zu bringen.

Die lapidare Antwort auf Lohses Brief unterzeichnet der Ministeriumsvertreter Dr. Otto Bräutigam am 18.12.1941: „In der Judenfrage dürfte inzwischen durch mündliche Besprechungen Klarheit geschaffen sein. Wirtschaftliche Belange sollen bei der Regelung des Problems grundsätzlich unberücksichtigt bleiben. Im übrigen wird gebeten, auftauchende Fragen unmittelbar mit dem höheren SS- und Polizeiführer zu regeln.“ – Inzwischen ist der Weg geklärt. Seit Wochen unternimmt der Reichskommissar nichts mehr gegen das massenhafte Morden vor seinen Augen in und bei Riga: Der „Höhere SS- und Polizeiführer“ Jeckeln hat mit seiner Ankunft in Riga die weitgehende Räumung des Rigaer Ghettos und die Ermordung von circa 26.000 Juden angeordnet, die wenige Kilometer südöstlich Rigas in einem Waldgebiet am 30. November und am 8./9. Dezember 1941 ausgeführt wird.

Reichskommissar Lohse weiß aus Gesprächen in Berlin, dass die systematischen Morde an baltischen Juden und Deportationen von westeuropäischen Juden dorthin weitergehen sollen. Er weiß auch um die Rolle seiner Zivilverwaltung: Der Genozid ist offenbar im Sinne des „Führers“ Adolf Hitler und damit fortan ein indiskutabler Teil der deutschen Besatzungspolitik. Lohse und seine Mitarbeiter unternehmen nichts mehr gegen den hunderttausendfachen Judenmord im Reichskommissariat Ostland. Im Gegenteil, dessen „ordnungsgemäße“ Anteile sind ihre Aufgabe. Diese überwiegend aus Schleswig-Holstein stammenden Parteileute und Verwaltungskräfte funktionieren und „verwalten“ bis zu ihrer Flucht im Sommer 1944.

So bleibt es paradox, dass ausgerechnet dieser Schriftverkehr nach 1945 als Entlastungsmoment in staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren eingeht: Lohse meint damit seine Ablehnung des Mordens und die mangelnde Verhinderungsmöglichkeit dokumentieren zu können. Tatsächlich stellt die Staatsanwaltschaft Itzehoe das letzte Verfahren 1962 ein: Mord oder Beihilfe scheinen nicht nachweisbar, die Einlassungen Lohses glaubhaft. Dr. Georg Leibbrandt und Dr. Otto Bräutigam setzen im Auswärtigen Amt in den 1950er ihre Karrieren fort; nach Bekanntwerden der Dokumente wird Bräutigam strafversetzt, als Generalkonsul nach Hongkong. Mehr geschieht nicht. Dr. Walter Alnor ist von 1950 bis zur Pensionierung 1959 Landrat des Kreises Segeberg. Als er 1972 stirbt, erscheinen ehrende Nachrufe, ohne die Tätigkeit im „Ostland“ zu erwähnen.

Quelle: Zit. nach Benz, Wolfgang/ Kwiet, Konrad/ Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Einsatz im ‚Reichskommissariat Ostland‘. Dokumente zum Völkermord im Baltikum und in Weißrussland 1941-1944, Berlin 1998, S. 92f.

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