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Joachim Steffen: Rede auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg 1968

„Ich glaube, dass das, was in Jahren durch falsche, kurzsichtige Interessenpolitik und sträflich-bequeme Unterlassungen ruiniert wurde, auch nur in Jahren repariert werden kann. Ich sage das nicht, weil es mir etwa Spaß machte, die Menschen das Gruseln zu lehren, sondern weil das richtige Einschätzen der Situation die Voraussetzung der richtigen Maßnahmen ist, weil mündige Bürger voraussetzen, dass man sie wie solche behandelt, das heißt, ihnen die harten Tatsachen vor Augen führt und sie kein politisches Schattenboxen ausführen lässt, weil die Glaubwürdigkeit der demokratischen Politik in den verflossenen Jahren der Adenauer-Erhard-Ära so strapaziert wurde, dass eine weitere Strapazierung an den Lebensnerv demokratischer Politik in diesem Lande geht und weil die ständig wiederholten Aufforderungen an die CDU/CSU, doch dem Volke die Wahrheit zu sagen, in ihrem erkennbaren Erfolg der Aufforderung an die Katze gleichkommen, doch gefälligst das Mausen zu lassen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, dem Volke die Wahrheit zu sagen. Wir müssen es im Interesse auch unserer Partei, im Interesse der parlamentarischdemokratischen Regierungsform und im Interesse des Volkes tun. Wir wissen, dass eine bewusste Politik wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen der Entfaltung der Produktivkräfte nicht nur folgen, sondern ihr vorweggehen muss. Wir wissen, dass hier Eile not tut. Das ist durch eine funktionale Veränderung unseres Systems und durch Reformen an den Institutionen der Gesellschaft möglich. Das ist durch eine zunehmende Verwirklichung der Chancengleichheit aller Menschen möglich, und das wird durch ein größtmögliches Wachstum des Sozialprodukts und ein Wachsen des Raumes der menschlichen Selbstbestimmung möglich.

Aber, Genossinnen und Genossen, das wird sich nicht in Harmonie vollziehen, sondern im Kampf, vielleicht sogar im erbitterten Kampf, in dem Kampf um politische und gesellschaftliche Machtpositionen. (Beifall.)

Die Veränderungen der Position der Beherrschten mit dem Ziel, sie an der Position der Herrschenden teilnehmen oder sie entscheidend beeinflussen zu lassen, ist nur über den Weg des Kampfes um die Herzen und die Gehirne der Menschen und um die Schalthebel der gesellschaftlichen Macht möglich und denkbar. (Beifall.)

Es kann dabei nicht nur das Interesse unserer Gesellschaftspolitik sein, die gegebene „Ordnung“ zum bestmöglichen Funktionieren zu bringen. Es ist die Aufgabe unserer Gesellschaftspolitik, gleichzeitig die Qualität dieser Ordnung nach unseren Zielsetzungen zu verändern. (Beifall.)

Daraus ergeben sich für unsere Partei des sozialen Fortschritts, die auf den Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung ruht, drei Aufgaben:

1. Die bewusste Steuerung der technologischen Prozesse. Dazu gehört die Förderung jener Entwicklungen, die die Zukunft bestimmen, und dazu gehört die planende Vorbereitung und das geordnete Ablaufen der Schrumpfungsprozesse in alten Branchen. Nur so können wir einerseits das Wachstum beschleunigen und andererseits das Schrumpfen sozial entschärfen.

2. Erweiterung der Macht- und Kontrollbefugnis der heute noch Beherrschten. Dazu gehört die Erweiterung der Macht „an der Basis“ der Gesellschaft, und dazu gehört die verstärkte Kontrolle über die Zentren der Entscheidungen „an der Spitze“ der Gesellschaft. Nur so können wir das politisch souveräne Volk auch zum Mitbestimmenden über die Bedingungen seiner unmittelbaren Existenz werden lassen.

3. Ausbau der bildungsmäßigen und materiellen Gleichheit der Chancen für alle. Dazu gehört ein umfassendes System der Ausbildung, um den technologischen Prozessen gewachsen zu sein ebenso wie die Beseitigung der faktisch bestehenden sozialen Schranken auf dem Wege zu den Stätten der Ausbildung, und dazu gehört eine Verteilung der Steuern nach dem „Vermögen“, wie die Vermögensbildung, um das Zwangssparen in die Tasche anderer zu beschränken. Nur so können wir die Früchte der gesellschaftlichen Produktion gerechter auf die Gesellschaft verteilen.

Die Vermittlungsstelle zwischen unseren Zielen und der Zustimmung des Volkes ist die humane Vernunft. Sie besteht aus sachlicher Einsicht in die Bedingungen der Existenz und die damit gegebenen Interessen. Sie besteht aus der kritischen Beseitigung der Fetische der Gesellschaft, die wir auch landläufig als Tabus oder Heilige Kühe bezeichnen. Die humane Vernunft gibt dem Menschen den Spielraum der Einsicht zwischen seiner Freiheit und der Notwendigkeit. Je mehr wir diesen Raum erweitern, um so größer wird die menschliche Freiheit in der Entwicklung von Alternativen und der Wahl zwischen den Alternativen, desto mehr schränken wir durch gleichzeitige Veränderungen des Systems die Herrschaft der blinden Zwänge ein. Die humane Vernunft, gepaart mit dem Willen, sie zu verwirklichen, ist der Schlüssel, wie ich glaube, zum Sozialismus in einer entwickelten Industriegesellschaft.

Viele spotten heute über den Traum von einer sozialistischen Gesellschaft. Lasst sie spotten! Sie spotten der Entwicklung und der Tatsachen. Der Traum von unserer sozialistischen Gesellschaft ist so alt wie das menschliche Denken. Was früher Traum war, scheiterte in der Wirklichkeit an den unzureichenden materiellen Bedingungen des Tages und an dem fehlenden Bewußtsein. Aber heute, heute haben wir die Möglichkeit der Produktion so entwickelt und das Wissen um das Machbare so erweitert, daß eine sozialistische Gesellschaft in Freiheit nicht nur denkbar, sondern tatsächlich zu gestalten ist.

Wir können, glaube ich, wenn wir die humane Vernunft zur Macht werden lassen, den Traum von zwei Jahrtausenden in Jahrzehnten zur Wirklichkeit werden lassen. Der Traum kann Wirklichkeit werden: Eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, eine Gesellschaft, in der der Mensch mit seinen Bedürfnissen das Maß aller Dinge ist, eine Gesellschaft, in der der Mensch nicht geknebelt oder gefesselt wird durch die Herrschaft seiner eigenen Fetische, sei es Profitstreben oder sei es Konsumzwang.“ (Lang anhaltender, lebhafter Beifall.)

Quelle: Rede auf Parteitag der SPD 1968. Zit. nach: Danker, Uwe: Landespolitik in den 70er Jahren, Ära Stoltenberg-Steffen. In: Ders.: Jahrhundert-Story Bd. 2. Flensburg 1998, S. 228-237, S. 244f.

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